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Predigt: Lebensmuster durchbrechen |
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Von Lars Kunkel (18.06.2012)
Es gibt Momente im Leben, da fühlt man sich, als ob man auf einer Parkbank sitzt: Man hält inne und fühlt Sehnsucht oder Hoffnung oder wird traurig und kann sich nicht erklären, warum. Man sitzt nur so da und denkt: Wie kommt es eigentlich, dass ich immer über dieselben Sachen im Leben stolpere? Wie kommt es, dass mir immer die gleichen Situationen Angst machen? Wieso sind es immer die gleichen roten Knöpfe, die mich zur Weißglut bringen?
Das kann der Moment sein, an dem wir erkennen, dass es Muster in unserem Leben gibt, die immer wieder auftauchen – in unserem Leben und in unserer Geschichte, bei unseren Eltern oder Großeltern oder Urgroßeltern.
Lebensmuster sind auch das Thema von Kathrin Gerlof in ihrem Roman „Alle Zeit“. Klara, die Urgroßmutter, und Juli, die Urenkelin, treffen sich auf einer Bank, bräuchten einander und erkennen sich nicht.
Die eine ist dement, die andere schwanger, beide sind einsam. Svenja,
das Kind von Juli, hat keinen Vater, die junge Frau hat kein Glück mit
Männern, kann nicht reden und wirkt verloren. Woher kommt das bloß?
Die Urgroßmutter Klara ist in einer Zeit aufgewachsen, in der das Reden
über Sexualität ein Tabu ist. Sie wird früh schwanger, verschafft sich
und ihrer kleinen Tochter etwas Essen durch eine Liaison mit einem
Russen, wird vergewaltigt und führt, nachdem der Krieg vorbei ist, ein
Leben an der Seite eines Mannes, der sie nicht mehr anrührt. Ihre Brüste
sind amputiert, sie gilt zudem als Russenflittchen und fühlt sich
gleichzeitig ihrer Weiblichkeit beraubt. Ihre Tochter Henriette bekommt
ebenfalls sehr früh ein Kind von einem beinahe unbekannten Mann, gezeugt
hinter einem Busch, und hat fortan auch dauernd Pech mit Männern. Der
eine ist ein jähzorniger Ehemann, der andere wird von der eigenen Mutter
als Republikflüchtling denunziert und wandert ins Gefängnis.
Das vergiftet das Verhältnis zwischen Henriette und Klara, und
Henriettes Tochter Elisa lernt die Großmutter nie kennen. Als die beiden
sich dann endlich auf den Weg machen, die Vergangenheit zu ergründen,
sterben sie durch einen tragischen Unfall. Und Juli wird dann schwanger
von einem 19jährigen Abiturienten, dem sie sich nicht traut zu
offenbaren.
Die vier Frauen verbindet viel. Sie reden nicht miteinander, sie klären
nicht ihre Geschichte, ihre Gefühle, reden nicht über Liebe, Sex,
Weiblichkeit. Alles wird verdrängt, verschwiegen.
Oft sind es die Tabus der Kriegsgeneration, die deren Kinder und Kindeskinder schweigen lassen.
Katrin Gerlof hat ihren Roman „Alle Zeit“ genannt. Die Frauen im Roman
denken, dass sie alle Zeit der Welt haben. Aber das Gegenteil ist wahr:
Henriette und Elisa vertrödeln ihre Zeit und sterben, bevor es zu einer
Klärung kommen kann. Klara träumt lediglich davon, sich mit ihrer
Tochter versöhnt zu haben. Und selbst Juli verpasst immer wieder den
richtigen Moment, ihrem Leben eine Richtung zu geben. Statt „aller Zeit“
ist es fast immer zu spät.
Gehen wir gedanklich wieder zurück auf unsere Parkbank und halten inne:
„Was sind unsere Lebensmuster?“ und „Sind wir für immer darin gefangen?“
Das glaube ich nicht. Ich bin mir sicher, dass Gott etwas anderes für
uns will. Er will uns zu befreiten und aufrechten Menschen machen. Jesus
Christus ist zu den Menschen gegangen, die mit sich und der Welt zu
kämpfen hatten. Nehmen wir doch einmal den aus Kindertagen bekannten
Zachäus. Vielleicht erinnern Sie sich an den Zöllner auf dem Baum, der
unbedingt Jesus sehen will?!
Zachäus ist ein kleiner Mann. Das ist kein Zufall, die Bibel ist da
immer sehr genau. Ich stelle mir vor, dass Zachäus sich auch innen ganz
klein gefühlt hat, dass er sich übersehen, gedemütigt und abgewertet
gefühlt hat. Durch sein vieles Geld wollte er sich ganz groß machen.
Das gibt ihm Sicherheit, aber er ist doch mit seinem Leben unzufrieden.
Er geht zwar nicht auf eine Parkbank, aber er steigt auf einen Baum, um
Jesus zu sehen. Und Jesus nimmt ihn wahr und will bei ihm zu Gast sein.
Zachäus darf sich weiterhin aktiv und handlungsfähig fühlen, er kann
aber auch den Mangel in seinem Leben erkennen und fühlt sich nun
vollkommen damit angenommen. Er ist mit Gott versöhnt, mit sich selbst
und dann sogar mit den anderen Menschen und gibt von seinem unrechtmäßig
gewonnenen Geld ab.
Ich habe Ihnen diese Geschichte aus zwei Gründen erzählt: Sie zeigt,
dass Gott unsere Lebensmuster durchbrechen will. Und uns zu freien,
barmherzigen Menschen machen will, die nicht ihre Persönlichkeit
aufgeben müssen und sich doch weiterentwickeln können. Die Geschichte
von Zachäus zeigt aber auch, wie Jesus als Therapeut wirkt. Drei
Schritte sind dazu notwendig:
1. Suche und Unzufriedenheit: Die Voraussetzung ist, dass ein Mensch
unzufrieden mit seinem Leben ist und sich auf die Suche macht.
2. Bedingungslose Annahme durch Gott: Jesus nimmt den Menschen so an,
wie er ist, begleitet ihn auf seinem Weg, geht zu ihm und auf ihn ein.
3. Veränderung und Aufbruch: Die Begegnung mit Jesus verändert einen
Menschen und befreit ihn. Zachäus, der sich an sein Geld geklammert hat,
um Sicherheit und Macht zu gewinnen und um seine innere Armut und
Kleinheit zu kompensieren, wird nun großzügig.
Jesus zieht am Ende das Fazit: „Der Menschensohn ist gekommen zu suchen
und selig zu machen, was verloren ist.“ Paulus beschreibt das so: „Wenn
jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist
vergangen, Neues ist geworden.“
Gott will unsere Lebensmuster durchbrechen, jedenfalls dort, wo sie uns
unfrei machen, quälen und uns daran hindern, als der Mensch zu leben,
als den Gott uns gedacht hat.
Wir müssen uns dazu allerdings schon auf den Weg machen. Auf den Weg in
unsere Geschichte, die Geschichte unserer Familie. Oft schaffen wir das
nicht allein. Und darum müssen wir uns dann auch auf den Weg zu unseren
Freunden, zu einem Menschen, dem wir vertrauen können und der uns zuhört
machen. Manchmal auch auf den Weg zu einem guten Therapeuten, der uns
fördert und fordert. Welchen Weg wir dabei auch gehen, wir müssen uns
nicht dafür schämen. Es ist Gottes Wille, dass wir leben, und dazu nimmt
Gott sicher manchmal ganz unterschiedliche Wege und Mittel in Dienst.
Ob nun so oder so: Für mich bleibt Gottes Geist die Kraft in allem, die
neues Leben in uns schaffen will und kann. Durch ein Gespräch, ein
Gebet, einen Gottesdienst, eine Therapie, ein Buch, ein Kunstwerk.
Im 2. Korintherbrief heißt es: „Denn Jesus Christus wirkt durch seinen
Geist an uns. Und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Ein
ganz zentraler Punkt auf diesem Weg der Überwindung der zerstörerischen
Lebensmuster ist dabei die Versöhnung.
Im Buch von Katrin Gerlof gelingt es Klara nicht, sich mit ihrer Tochter
zu versöhnen, ihre Briefe sind nicht angekommen, den Mut für ein
Gespräch hatte sie nicht. Aber immerhin gelingt es Klara, sich mit ihrer
verlorenen Weiblichkeit und sogar ihrer zunehmenden Demenz zu
versöhnen. Durch ihre erotische Nacht mit ihrem Mitbewohner durchbricht
sie ein gesellschaftliches Tabu und gleichzeitig ein eigenes Tabu. Sie
überwindet die Scham des Alters, der Nacktheit, der Peinlichkeit und
erlebt in einem kurzen, aber wunderbaren Moment die vollkommene
Überwindung der Lebensmuster. Sie gewinnt Freiheit und erlebt
bedingungslose Annahme trotz ihrer Makel. Sie wird für einen Moment
geliebt, wie sie ist, und das ist ein wahrhaft göttlicher Moment. Ihr
bleibt nicht mehr alle Zeit, aber in diesem Augenblick erlebt sie
Ewigkeit. Dann ist es vorbei.
Und auch Juli macht sich auf die Suche. Was aus ihr wird, liegt in der
Phantasie des Lesers und der Leserin. Aber sie hat Hilfe. Sie hat eine
Hebamme, die vielleicht nicht nur Babys in das Leben hilft, sondern auch
Juli.
Sie setzt sich mit ihrer Geschichte, ihrer Familie auseinander. Und das
ist ein Anfang. Gott legt uns nicht auf unsere Lebensmuster fest. Mit
seinem Heiligen Geist will er unser Leben durchdringen und neues Leben
in uns schaffen. Durch den Propheten Jeremia verspricht Gott uns: „Ich
gebe Euch Zukunft und Hoffnung.“
Und der Friede Gottes, der höher steht als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. AMEN.
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