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Zufall oder Fügung? |
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Von Lars Kunkel (14.06.2010)
Predigt zum Literaturgottesdienst "Die Brücke von San Luis Rey"
Zufall oder Fügung? Seit Urzeiten beschäftigen sich Menschen mit der Frage, wie die Zukunft aussieht und ob das ganze Leben einen inneren Zusammenhang hat.Diese Frage beschäftigt uns alle, weil wir Angst davor haben, einfach nur in diese Welt geworfen zu sein. Wir möchten wissen, was auf uns zukommt und warum. Und wir möchten auch unsere Vergangenheit verstehen und so einen Sinn in unserem Leben entdecken.
Gibt es eine Fügung? Wird unser Leben von einer höheren Macht gelenkt? Dann ist die Frage, ob Gott einen langfristigen Plan für unser Leben hat. Oder fügt Gott unsere Zukunft abhängig davon, wie wir uns verhalten? Werden wir von Gott vielleicht sogar bestraft, wenn wir etwas Schlechtes tun und belohnt, wenn wir Gutes getan haben?
Manchmal fällt es uns leichter, ein Unglück als eine Reaktion auf unser Leben zu verstehen, als es für einen bloßen Zufall zu halten. Menschen hilft es daher manchmal, zum Beispiel eine Krankheit als eine Fügung Gottes zu verstehen. Durch Wut oder Trauer können sie dann ihr Schicksal verarbeiten. Sie haben ein Gegenüber, mit dem sie sich auseinandersetzen können. Der Zufall hingegen macht uns sprichwörtlich fassungslos. Wir können nicht fassen, was passiert.
Aber auch in der Rückschau auf unser Leben stellen wir immer wieder fest, dass sich einiges gefügt hat. Viele Menschen behaupten, dass in ihrem Leben einiges Fügung war. Dass die Mosaiksteine in ihrem Leben doch manchmal sehr gut zusammenpassen und einer darauf achtet, dass trotz manchen Unglückes das Leben nicht ganz aus den Fugen gerät. Wer im Rückblick auf sein Leben einen roten Faden erkennen kann, hat es gut, denn er entwickelt Vertrauen in die Zukunft und hat die Hoffnung, dass sein Leben auch in Zukunft zu etwas Gutem geführt wird, trotz aller Einwände gegen eine Lenkung unseres Lebens.
Denn vom Kopf her wissen wir alle auch, dass unser Leben nicht einfach
Fügung sein kann. Wir sehen uns nicht als Marionetten. Wir haben einen
Verstand und ein Herz, mit dem wir Entscheidungen treffen und unser
Leben lenken können. Wenn unser Leben Fügung wäre, gäbe es kaum
Freiheit. Doch selbst wenn wir an Fügung glauben, begreifen wir darin
längst nicht immer einen tieferen Sinn.
Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Menschen schreckliches
Unglück widerfährt, ohne dass darin ein Sinn oder gar eine gerechte
Strafe liegen kann.
Sollte es also eine Fügung Gottes geben, erkennen wir darin längst nicht
immer einen Plan, so dass uns diese Art der Fügung doch wieder wie
Zufall oder Willkür erscheinen muss.
Doch es ist schwer, ein Leben aus Zufall zu leben. Könnten Sie einen Tag
beginnen mit dem Gefühl, dass Ihnen heute zufällig alles passieren
kann? Wir hoffen alle irgendwie, dass es gut geht. Dass wir bewahrt
werden.
Objektiv lässt sich die Frage danach, ob unser Leben nun Zufall oder
Fügung ist, also nicht beantworten, so gerne wir eine Antwort hätten.
Darum hat die Untersuchung des Bruders Juniper auch so etwas
Faszinierendes. Eine Brücke stürzt ab und reißt gleichzeitig fünf
Menschen in den Tod. Und nun untersucht er die Schicksale der Menschen.
Gibt es etwas Gemeinsames in ihrem Leben? Hatten sie vielleicht den Tod
verdient? Einige Untersuchungsergebnisse haben wir Ihnen in diesem
Gottesdienst vorgestellt.
Die Marquesa war ein ungeliebtes und hässliches Kind, das nie Liebe
erfahren hat. Sie hatte sich in eine abgöttische und unerfüllte Liebe zu
ihrer Tochter verstrickt. Doch was sie Liebe nennt, entspringt in
Wirklichkeit Mangel und Geiz. Erst durch den Brief, den ihre
Gesellschafterin Pepita an deren Ziehmutter, eine Äbtissin, schreibt,
wird ihr klar, was wirklich Liebe bedeutet.
Sie erkennt, wie zerstörerisch und selbstsüchtig ihre Liebe zu der
Tochter war. Durch die Lektüre des Briefes wird sie plötzlich zu einem
mutigen und großherzigen Menschen. Sie nimmt das arme Mädchen an ihrer
Seite neu und bewusst wahr und sie schreibt ihrer Tochter einen
großmütigen Brief. Die Marquesa steht vor einem neuen Lebensabschnitt,
vor einem Aufbruch. „Lass mich von Neuem beginnen!“, sind ihre letzten
Worte, bevor die Brücke sie und Pepita in den Tod reißt.
Ist das Leben der Marquesa an diesem Punkt des Absturzes vielleicht an
ein Ziel gekommen? Oder anders gefragt: Gibt es einen Moment in unserem
Leben, an dem wir den höchsten Punkt unserer persönlichen Entwicklung
erreicht haben und dann im Grunde sterben könnten, weil sich unser Leben
erfüllt hat? Ist das die Fügung in diesem Unglück? Manche Menschen, die
einen Angehörigen sehr früh verloren haben, finden in dem Gedanken
Trost, dass auch ein zu früh beendetes Leben durchaus erfüllt gewesen
sein kann.
Auch Onkel Pio steht vor einem Aufbruch, als die Brücke einstürzt.
Eigentlich ein unstetiger und umtriebiger Mensch, hat auch seine Liebe
zu der Schauspielerin Camila eine Wandlung erlebt. Er hat sie entdeckt
und gefördert, es entwickelt sich eine platonische Liebe zwischen den
beiden, die jede erotische Facette verdrängt. Sie macht Karriere und
behandelt ihn mehr und mehr mit Verachtung.
Doch als die Blattern sie entstellen, ist er es, der zu ihr hält.
Camilla kann das nicht annehmen. Ihre Art zu lieben, ist geprägt von
Selbstsucht und Selbsthass. Doch Onkel Pio gibt nicht auf.
Er liebt weiter und ist bereit, ihr Kind aus der zerstörerischen Welt
aus Wut und Verzweiflung zu befreien und sich um den Sohn zu kümmern.
Doch auch dieser Aufbruch endet mit dem Tod. Kann man darin eine Fügung
erkennen?
Das große Experiment des Bruders Juniper ist gescheitert. Er muss am
Ende erkennen, dass die Marquesa nicht nur geizig und selbstsüchtig und
Onkel Pio nicht nur zügellos war. Juniper selbst, der mit sehr modernen
wissenschaftlichen Methoden versucht hat, einen Beweis für die Fügung
Gottes zu erbringen, muss am Ende die Sinnlosigkeit seines Unternehmens
erkennen. Für die Inquisition ist schon der Versuch, Gottes Handel zu
überprüfen und zu beweisen, eine Sünde. Juniper stirbt auf dem
Scheiterhaufen. Wir hingegen dürfen frei denken und über unseren Glauben
nachdenken.
Thornton Wilder gibt uns mit seinem Roman einige Hinweise mit auf den
Weg, wie Zufall und Fügung zueinander stehen. Der Schlüssel dazu liegt
im letzten Kapitel. Am Ende des Romans kommen die Hinterbliebenen der
Opfer zusammen. Alle Fäden laufen bei einer Äbtissin zusammen. Zu ihr
kommt die Tochter der Marquesa. Sie hat den letzten Brief ihrer Mutter
direkt vor dem Absturz gelesen. Und dieser aufrichtige, freie und
schlichte Liebesbrief bewegt sie zur Reue und Versöhnung. Ihre Mutter
erscheint ihr jetzt in einem neuen Licht. Sie selbst beginnt, barmherzig
zu werden.
Auch Camila, die Freundin von Onkel Pio, ist verändert. Sie erkennt
durch den Tod Pios ihre Selbstsucht, Einsamkeit und Verzweiflung.
Wilders Roman trägt somit Züge einer klassischen Tragödie, in der eine
Läuterung stattfindet. Er erzählt von einer Umkehr hin zu einer
barmherzigen und echten Liebe, die wir mit den Personen im Buch, in
deren Schicksal wir uns hinein versetzen, mit vollziehen können. Die
Frage nach Zufall oder Fügung wird nicht eindeutig entschieden. Zwar ist
in dem Unglück selbst keine Fügung erkennbar, aber ist es Zufall, dass
die Menschen, die daran leiden, sich verändern?
Wilders Roman ist zudem ein Plädoyer für ein bewusstes Leben und Lieben.
Er trägt, ähnlich wie die Gleichnisse der Bibel, eine Botschaft für die
Lebenden in sich. Wir können Gottes Handeln zwar oft nicht ergründen.
Wir haben es auch nicht selbst in der Hand, welche Brücken in unserem
Leben einstürzen. Aber wir haben die Möglichkeit, unsere Leben bewusst
zu gestalten. Und die Menschen in den Blick zu nehmen und zu lieben, die
uns anvertraut sind, ohne dass es erst zu einem Unglück kommen muss.
Doch selbst unsere aufrichtigste, ehrlichste und selbstloseste Liebe
bleibt immer unvollkommen. Die Äbtissin tröstet mit diesen Worten: „Wir
alle haben gefehlt. Man wünscht sich, dafür bestraft zu werden.
Man ist bereit, jede Art von Buße hinzunehmen. Aber wenn wir lieben -
ich wage es kaum zu sagen - wenn wir lieben, scheinen sogar unsere
Verfehlungen nicht lange zu währen.“
Damit spricht sie den verzweifelten Menschen die Liebe Gottes zu, die
sich vor allem als Gnade und Barmherzigkeit erweist. Eine Liebe, die uns
unsere unvollkommene und bruchstückhafte Liebe vergibt. Eine Liebe, die
uns als Menschen gelten lässt.
Diese Liebe Gottes bleibt bestehen. Gerade auch die Liebe Gottes zu den
Menschen, deren Leben zerbrochen und abgebrochen ist. Mit den Worten der
Äbtissin gesagt: „Die Liebe wird genug gewesen sein. Alle Regungen von
Liebe kehren zurück zu dem einen, der sie entstehen ließ.“ Was wir
begonnen haben, wird bei Gott vollendet.
Doch so unvollkommen unsere Liebe auch sein mag. Selbst sie hat Bestand.
Wilders Schlusssatz lautet: „Da ist ein Land der Lebenden und ein Land
der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzige
Bleibende, der einzige Sinn.“
Diese Gedanken über die Liebe in Wilders Roman entsprechen auf
wunderbare und überraschende Weise den Erkenntnissen des Apostel Paulus,
der in seinem Brief an die Korinther im 13. Kapitel sinngemäß sagt:
Alle Erkenntnis, alle Prophetie, alles Wissen ist Stückwerk. Das
bedeutet ja auch: Alle Berechnungen, Analysen und Theorien über Gottes
Handeln und seine Fügung unseres Lebens haben Grenzen. Doch die Liebe
Gottes bleibt bestehen. In ihr erkennen wir Gott. Und Gott finden wir in
ihr.
In der Liebe finden wir Trost jenseits aller Spekulationen über Zufall
und Fügung. Denn auch wenn wir keine Antwort auf die Frage nach Zufall
oder Fügung bekommen. Angst vor der Sinnlosigkeit und Einsamkeit unseres
Lebens brauchen wir nicht zu haben. Wir sind nicht in die Welt geworfen
und auch nicht in der Welt verlassen. Auch wenn wir letztlich nicht
ergründen können, warum etwas passiert, können wir doch darauf hoffen,
dass Gott bei uns ist und aus den Ereignissen unseres Lebens etwas Gutes
machen kann.
Indem wir darauf vertrauen, dass Gott keinen Menschen verlässt, egal,
was das Leben mit sich bringt – indem wir darauf vertrauen, dass jedes
auch noch so abgebrochene und zerbrochene Leben bei Gott bewahrt wird,
finden wir in der Liebe einen tragfähigen Weg, unser Leben zu gestalten.
Aus der Liebe schöpfen wir die Hoffnung und das Vertrauen, unser Leben
zu leben. Dies zu wissen und aus der Liebe zu leben, das kann kein
Zufall sein - ist das vielleicht die Fügung unseres Lebens?
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